Der Retter

 

Gregor Goldenbogen muss manchmal dem Tod ins Auge sehen. Er ist einer von 130.000 Wasserrettern, die als Ehrenamtliche für die Wasserwacht des Deutschen Roten Kreuzes im Einsatz sind. Im brandenburgischen Müllrose nahe der deutsch-polnischen Grenze hilft er Menschen in Not. Auch beim Jahrhunderthochwasser im Sommer war er als Helfer dabei.

Von Markus Huth

Hilflos versinkt der verunglückte Segler im trüben See, gleich ist es vorbei mit ihm. Noch keine 40 Jahre alt, droht der kalte, naße Tod. Doch plötzlich: eine Hand. Wie ein Pfeil schießt sie durchs Wasser, packt ihn am Arm und zieht ihn zurück Richtung Leben. “Festhalten! Ruhig atmen!”, schreit Gregor Goldenbogen gegen Windstärke 4 an.

Dem fast Ertrunkenen muss er wie ein Astronaut erscheinen. Der Kopf unter einem Helm mit Lampe dran, den Körper schützt ein Neoprenanzug im knalligen Rot-Blau. Doch es ist kein Astronaut, der den Ertrinkenden aus dem Großen Müllroser See südlich von Frankfurt an der Oder rettet. Goldenbogen ist ehrenamtlicher Rettungsschwimmer bei der Wasserwacht des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Seine Aufgabe: Personen in Not auf, am und im Wasser retten.

Drei Jahre ist das mit dem Segler her. Goldenbogen steht in seiner signalfarbenden Rotkreuz-Kleidung auf dem Steg vor der Müllroser Wasserwache, von wo er das Boot damals kentern sah. Die kleine Holzhütte liegt auf einem Landzipfel, der sich wie eine Speerspitze in den länglichen See schiebt. Von hier aus kann der 38-Jährige fast das gesamte Gewässer überblicken, mit dem Motorboot ist er in wenigen Minuten an jedem Punkt. An diesem Herbsttag ist der See glatt wie ein Spiegel und reflektiert die Wälder und Häuser am Ufer. Doch damals schien er zu brodeln.

“Selbst auf einem kleinem See wie diesem”, sagt Goldenbogen, “können die Wellen bei Sturm schnell sehr hoch werden.” Das Unglück sah er durchs Fernglas: drei Männer hilflos im 10 Grad kalten Wasser, fast einen Kilometer weit von ihm entfernt – besonders prekär: das Motorboot war gerade in der Werkstatt.

Solche Situationen können auf auf jeden Rettungsschwimmer zukommen. Die Ausbildung ist daher hart und kostet viel Zeit. Wer Rettungsschwimmer werden will, muss mindestens 16 Stunden Unterricht in Themen wie Schwimmtechniken, Wiederbelebung und Gefahreneinschätzung absolvieren und das Rettungsschwimmabzeichen in Silber schaffen. Das heißt: 400 Meter in höchstens 15 Minuten schwimmen, 300 Meter in voller Kleidung unter 12 Minuten schwimmen und mindestens 25 Meter weit tauchen können. Zudem müssen die Helfer auch in Stresssituationen, in denen es um Leben und Tod geht, die Übersicht behalten. Regelmäßig müssen sie nachweisen, dass sie topfit sind. Denn nur dann, schaffen sie, was Goldenbogen tun musste, um den Seglern zu helfen:

Er alarmierte den Notruf, sprang im Neoprenanzug auf das Rettungskajak und paddelte los. Über 800 Meter gegen Wind und Wellen, bis zu der Stelle, an der das Boot gekentert war. Zwei der Männer hielten sich am Rumpf ihres Boots fest, der dritte trieb ab, versank. Er würde ohne Goldenbogen heute wohl nicht mehr leben.

Leben mit dem Tod

Dass er Leben retten will, wusste Goldenbogen bereits als kleiner Junge. Im Alter von neun Jahren trat er als “Junger Sanitäter” ins DRK ein und kümmerte sich auf Schulveranstaltungen um seine Mitschüler. Egal ob Bewusstlosigkeit, Blutungen oder Bauchschmerzen: durch die Erste-Hilfe Ausbildung wusste er, was zu tun war. Die anderen Kinder hätten ihn dafür respektiert, erinnert er sich, das habe ihm gefallen. Schließlich wurde er Kreisleiter vom Jugendrotkreuz in Frankfurt (Oder). Trotz Ausbildung zum Industriemechaniker bei der Deutschen Bahn war für ihn klar: “Anderen zu helfen, ist mein Lebensinhalt.”

Also machte Goldenbogen die Ausbildung zum Rettungssanitäter und schließlich zum Rettungsassistenten und ist seitdem hauptberuflich beim DRK-Rettungsdienst in seiner Heimatregion angestellt. Dieser Beruf brachte den Tod in sein Leben.

Er half als Begleiter von Notärzten vielen Menschen, sah im Laufe der Jahre aber auch Hunderte sterben. Nach Verkehrsunfällen, Hausbränden oder Gewaltverbrechen. Der Umgang mit dem Tod, sagt er, sei für diesen Beruf Voraussetzung. “Sterben ist normal.” Manchmal gibt es mehr Verletzte als Helfer, dann müsse man sich zuerst denen zuwenden, deren Überlebenschancen höher scheinen. “Die Entscheidung muss schnell fallen, manchmal ist sie vielleicht falsch.”

Noch immer, sagt er, verfolge ihn in seinen Träumen eine solche Entscheidung: 2005, ein unbeschränkter Bahnübergang kurz vor Beeskow – ein Kleinwagen wird vom Zug erfasst. Aus dem eintreffenden Notarzteinsatzfahrzeug springen der Notarzt und Goldenbogen. Zwei Helfer für vier Schwerverletzte, darunter ein anderthalbjähriges Baby. Es stirbt. Die Retter hatten anderen zuerst geholfen. Goldenbogen blickt lange aufs Wasser. “Bei Kindern fällt das Loslassen besonders schwer”, sagt er schließlich.

Ehrenamt aus Verantwortung

Inzwischen ist er Lehrrettungsassistent, das heißt, dass er andere Helfer ausbildet, darunter Polizisten, Feuerwehrleute, Rettungsassistenten, Rettungssanitäter und angehende Ärzte. Für seinen Beruf arbeitet er etwa 50 Arbeitsstunden pro Woche. Das Ehrenamt fordert ihn zusätzlich. Als Rettungsschwimmer und Vorsitzender der Müllroser Wasserwacht Ortsgruppe arbeitet er während des Sommers bis zu 20 Wochenstunden und behält die Badegäste der umliegenden Strände im Blick. Daneben unterrichtet er Kinder im Schwimmen.

Zum Glück, sagt Goldenbogen, habe seine Freundin als Ärztin Verständnis dafür. Insgesamt engagieren sich bei der Müllroser Wasserwacht 27 Ehrenamtliche im Alter zwischen 12 und 54 Jahren. Die Station besetzen sie abwechselnd, wobei immer volljährige und ausgebildete Rettungsschwimmer und Rettungsbootführer anwesend sind.

“Natürlich ist das viel Zeit, aber es ist eine Frage der Verantwortung für die Gemeinschaft.” Der Lohn sei die Dankbarkeit, die den Rettungsschwimmern von den Müllrosern entgegengebracht werde. Bei rund 60Hilfseinsätzen pro Jahr – von der Scherbe im Fuß bis zum Retten von Ertrinkenden – sei schon Vielen aus dem 5.000-Seelen-Ort geholfen worden. Doch die Wasserwacht plagt Nachwuchssorgen.

Viele junge Menschen ziehen aus der Region weg. Und immer weniger Jugendliche brächten die körperlichen Voraussetzungen zum Rettungsschwimmer mit, findet Goldenbogen. “Viele können nicht mal schwimmen, anderen fehlt die Ausdauer.” Zudem sei die Ausbildung zum Rettungsschwimmer sehr zeitaufwendig und immer weniger Menschen wären bereit, ihre Freizeit zu opfern. “Allein für den Bootsführerschein muss man zwei Jahre einplanen.” Auch die Technik werde immer aufwendiger. Er plädiert deshalb für eine Professionalisierung des Systems, mit bezahlten Wasserrettern.

Bundesweit gibt es an über 1.200 DRK-Wachstationen rund 130.000 ehrenamtliche Wasserretter. Die Wasserwacht ist damit eine der größten Unterorganisationen des DRK, die sogenannten Gemeinschaften. Insgesamt engagieren sich bei Wasserwacht, Bergwacht, den Bereitschaften, den sozialen Diensten und dem Jugendrotkreuz rund 400.000 Helfer ehrenamtlich. Mitmachen könne jeder seinen Vorlieben und Fähigkeiten entsprechend, sagt eine Sprecherin. Die Aufgaben reichen vom Unterstützen Pflegebedürftiger, über den Hilfseinsatz bei Naturkatastrophen bis zur Ausbildung von Rettungshunden.

Bezahlung gibt es nicht, doch erstattet das DRK durch das Ehrenamt verursachte Kosten, etwa Ausgaben für Fahrt oder Unterkunft. Und es gibt andere Formen der Anerkennung: Zum Beispiel Auszeichnungen wie das “Ehrenzeichen des Deutschen Roten Kreuzes”, Ehrennadeln für langjährige Mitgliedschaft oder die Henry-Dunant-Plakette.

Irrfahrt durchs Hochwasser

Das DRK feiert in diesem Jahr 150-jähriges Bestehen, die Wasserwacht immerhin 130-jähriges. Ihre Geburt kam mit einem Hochwasser: Als die Donau 1883 Regensburg überflutete, waren Rotkreuzhelfer erstmals an einer Hochwasserrettung beteiligt. So gesehen kehrte Goldenbogen zu den Wurzeln zurück, als das DRK ihn und 5 weitere Helfer aus Müllrose im vergangenen Juni während des Elbhochwassers ins sachsen-anhältische Fischbeck schickte. Nach einem Deichbruch standen in der Region bis zu 250 Quadratkilometer Land unter Wasser. Der Auftrag: Von der Flut eingeschlossene Menschen befreien. Das Problem: Die wollten nicht.

“Es war eine Katastrophe”, erinnert sich Goldenbogen, “die Einsatzleitung war ein einziges Chaos, wir hatten nicht mal Karten mit aktuellen Wasserständen.” Als die Helfer im Schlauchboot nach stundenlanger Irrfahrt durch die Dunkelheit endlich Bewohner fanden, hätten die sich schlicht geweigert, ihren auf einem Hügel gelegenen Bauernhof zu verlassen. “Am Ende haben wir ihnen Lebensmittel und Medikamente gebracht.” Dennoch ist er froh, dass er dort war, um zu helfen. Machtlos fühlte er sich allerdings in der Notunterkunft in Stendal, wo die Helfer gemeinsam mit den evakuierten Menschen schliefen. “Wir wussten, dass ihre Häuser zerstört waren, konnten es ihnen aber nicht sagen.”

Vom Steg seiner Station steigt Goldenbogen ins Boot, legt sich eine orangene Schwimmweste um und lässt den Motor für eine Kontrollfahrt an. Während es ablegt, wühlt es den spiegelglatten See auf, auch in die Flagge der Wasserwacht kommt nun Bewegung. Das seien die romantischen Seiten des Jobs, sagt er. Sein Ehrenamt als Wasserretter wolle er noch viele Jahre ausüben. Auch wegen solcher Momente: Ab und zu läuft ihm in Müllrose der Segler über den Weg, den er vor drei Jahren rettete. Der sei dankbar, habe aber auch ein schlechtes Gewissen. Denn er trug auf dem Boot damals keine Weste. “Den Fehler wird er nicht nochmal machen”, sagt Goldenbogen.

Aus Dankbarkeit veröffentlichten die drei Segler eine Zeitungsannonce. “Ihnen verdanken wir”, steht dort an den Wasserretter gerichtet, “dass wir heute gesund, trotz eigen verschuldeter Fehler, bei unseren Familien sein dürfen.”

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